ad Darśana
Die sechs orthodoxen Philosophiesysteme der Hindus

Vedānta

Vedānta setzt sich aus zwei Worten zusammen: Veda + anta. Veda meint zweierlei: Einmal bedeutet Veda einfach Wissen, und zum anderen bedeutet Veda ein göttlich offenbartes Wissen. Anta meint Ende. Vedānta ist somit das Ende des Wissens. Einmal als Ende eines jeden Wissens, und dann - so wurde es früher verstanden - Ende der göttlichen Offenbarung, bzw. Abschluß und endgültige Deutung dieser Offenbarung.
Der Begriff wird erstmals in der Muṇḍaka-Upaniṣad 3;2;6 und der Bhagavad-Gīta 15;15 für die am Ende des vedischen Schrifttums stehenden Upaniṣads verwendet. Später wird es der Name für eines der sechs philosophischen Systeme des Hinduismus (Darśanas). Innerhalb des Vedanta gibt es mehrere Richtungen, von denen der Advaita-Vedānta heute die bekannteste und wohl auch philosophisch die stimmigste Richtung ist.

Paul Deussen hat in seiner Übersetzung des Vedānta-Sūtra (Die Sûtra's des Vedânta oder die Çariraka-Mimansa des Badarayana nebst einem vollständigen Kommentare des Çankara. Aus dem Sanskrit übersetzt (1887)) auch Śaṅkaras Einleitung zu den Sūtras mit überliefert. Diese Einleitung ist hier im Folgenden wiedergegeben. Sie zeigt sozusagen den Fahrplan nzw. die Grundfrage, um die es sich im Vedānta dreht:

Objekt (viśaya) und Subjekt (viśayin), wie sie als ihren Bereich die Vorstellung des "Du" [Nicht-Ich] und des "Ich" haben, sind so entgegen gesetzter Natur wie Finsternis und Licht.
Steht es nun fest, daß das Sein des einen in dem andern nicht zutrifft, so folgt umso mehr, dass auch die Qualitäten (dharma) des einen bei dem andern nicht statthaben.
Hieraus ergibt sich, dass die Übertragung (adhyāsa) des als seinen Bereich die Vorstellung des "Du" habenden Objektes und seiner Qualitäten auf das als seinen Bereich die Vorstellung des "Ich" habende, rein geistige Subjekt, und umgekehrt, dass die Übertragung des Subjektes und seiner Qualitäten auf das Objekt folgerichtigerweise falsch ist.

Und doch ist den Menschen dieses, auf falscher Erkenntnis beruhende (mithyā-jñāna-nimitta), Wahres und Unwahres [d.h. Subjektives und Objektives] paarende Verfahren angeboren (naisargika), daß sie die Wesenheit und die Qualitäten des einen auf das andere übertragen, Objekt und Subjekt, obgleich sie absolut verschieden (atyanta-vivikta) sind, nicht von einander unterscheiden und so z. B. sagen "das bin ich", "das ist mein".

Aber was ist unter dieser "Übertragung" zu verstehen?
Wir antworten:
Sie ist das auf Erinnerung beruhende Erscheinen eines früher Gesehenen an einem anderen.

Manche hingegen definieren sie als die Übertragung der Qualitäten, die der einen Sache zukommen, auf eine andere; einige wiederum als einen Irrtum, der dadurch bedingt sei, dass man den Unterschied der Sache nicht auffasse, auf welche die Übertragung geschehe;
wieder andere erklären sie als die Annahme von Qualitäten an dem Gegenstande der Übertragung, welche seinem Wesen entgegengesetzt seien. –
Wie dem auch sei, darin ist Übereinstimmung, dass sie das Erscheinen der Qualität der einen Sache an einer anderen ist.
Und so zeigt sie sich auch in der Wahrnehmung des gemeinen Lebens, wenn z.B. die Perlmutter als Silber, oder der Mond, wiewohl er einer ist, als zwei erscheint.
Aber wie ist es möglich, auf das innere Selbst, da es doch nicht Objekt ist, die Qualitäten von Objekten zu übertragen?
Denn ein jeder überträgt doch nur auf ein vor ihm stehendes Objekt ein anderes Objekt; und du selbst sagtest [oben], dass das der Vorstellung des "Du" entbehrende innere Selbst kein Objekt sei (avishayatvam)?

Wir antworten:
dasselbe ist doch nicht in jedem Sinne Nicht-Objekt; denn es ist das Objekt der Vorstellung des Ich; und nur darum nimmt man ja auch allgemein ein inneres Selbst an, weil es der Wahrnehmung nicht unzugänglich ist.

Auch besteht eben keine Notwendigkeit, dass man nur auf ein vor uns stehendes Objekt ein anderes Objekt übertragen könne; indem z. B. auf den Weltraum (ākāśa), wiewohl er nicht wahrnehmbar ist, Unerfahrene die dunkle Farbe des Grundes und dergleichen übertragen.

Ebenso ist es nicht ausgeschlossen, dass man auch auf das innere Selbst überträgt, was nicht das Selbst ist. Diese so beschaffene Übertragung erklären die Philosophen für ein Nichtwissen (avidyā) und bezeichnen im Gegensatze dazu die genaue Bestimmung der Natur eines Dinges als das Wissen (vidyā).

Ist dem aber so, dann folgt, dass der Gegenstand, auf welchen eine [derartige, falsche] Übertragung stattfindet, durch eine in ihr begründete Fehlerhaftigkeit oder Beschaffenheit nicht im mindesten betroffen wird.
Diese, "Nichtwissen" genannte, das Selbst und das Nicht-Selbst miteinander verwechselnde Übertragung bildet nun die Voraussetzung, unter welcher alle Beschäftigung mit Beweisen oder zu Beweisendem, und zwar auf weltlichem wie auf vedischem Gebiete, stattfindet; und ebenso beruhen auf ihr alle Lehrbücher, mögen sie nun Gebote und Verbote oder auch die Erlösung betreffen.

Aber wie ist es möglich, dass die Erkenntnismittel, wie Wahrnehmung usw. , und auch die Lehrbücher sich auf den Bereich des im Nichtwissen Beruhenden beziehen?'

Antwort:
weil man ohne den Wahn, dass in Leib, Sinnesorganen usw. das "Ich" und das "Mein" bestehe, kein Erkennender sein kann, und folglich eine Betätigung der Erkenntnismittel nicht möglich ist.
Denn ohne die Sinnesorgane zur Hilfe zu nehmen, findet eine Tätigkeit des Wahrnehmens usw. nicht statt; die Verrichtung der Sinnesorgane aber wiederum ist nicht möglich ohne einen Standort [den Leib]; keinerlei Aktion des Leibes aber ist möglich, ohne dass man auf ihn das Sein des Selbstes (der Seele, ātman) übertrüge; und ohne dass dieses alles stattfindet, d.h. bei der [von der Leiblichkeit] unabhängigen Seele ist eine Erkenntnistätigkeit gar nicht möglich.
Ohne Erkenntnistätigkeit aber geht das Erkennen nicht vor sich. Folglich beziehen sich die Erkenntnismittel, Wahrnehmung usw. sowie die [erwähnten] Lehrbücher auf den Bereich des im Nichtwissen Beruhenden.

Ferner auch deswegen [gehört die weltliche und die vedische Erkenntnis in den Bereich des Nichtwissens], weil [dabei] ein Unterschied von den Tieren nicht stattfindet.
Denn sowie die Tiere, wenn z.B. ein Ton ihr Ohr berührt, falls die Erkenntnis durch diesen Ton u.s.w. für sie von unangenehmer Art ist, sich davon weg wenden, und, falls sie angenehm ist, sich hinzuwenden,
wie sie z.B., wenn sie einen Menschen mit einem aufgehobenen Stocke in der Hand vor sich sehen, in der Meinung: "der will mich schlagen", zu fliehen suchen, und wenn sie ihn mit einer Hand voll frischen Grases sehen, sich zu ihm hinwenden: ebenso pflegen auch die Menschen, wiewohl ihre Erkenntnis entwickelter ist (vyutpanna-citāḥ),
wenn sie Starke von grausigem Ansehen schreiend und mit gezückten Schwertern in den Händen wahrnehmen, sich von ihnen abzuwenden und zu den Entgegengesetzten sich hinzuwenden.
Sonach ist, in Bezug auf Mittel und Gegenstände des Erkennens, das Verfahren bei Menschen und Tieren das gleiche.
Allerdings geht bei den Tieren die auf das Wahrnehmen usw. folgende Tätigkeit ohne vorheriges Urteilen (viveka) vor sich; aber, wie man an der Gleichheit damit ersieht, ist auch bei den [geistiger] Entwicklung teilhaften (vyutpattimatām) Menschen die auf das Wahrnehmen usw. folgende Tätigkeit für jene Zeit [der falschen Erkenntnis] entschieden die nämliche; und wenn hingegen zu einer Werktätigkeit gemäß dem Schriftkanon nur ein solcher, der vorher die [erforderliche] Einsicht (buddhi) erworben hat, und keiner, der nicht die Verbindung der Seele mit der andern Welt erkannt hat, zugelassen wird, so ist doch zu dieser Zulassung nicht erforderlich, dass man die vom Vedānta zu lehrende, den Hunger und die übrigen [Begierden] hinter sich lassende, von den Unterschieden zwischen Brahmanen, Kriegern usw. Abstand nehmende Wahrheit über die vom Saṃsāra (der Seelenwanderung) freie Seele [erkannt habe]. Denn diese kommt bei der Betrauung [mit dem Opferwerke] nicht zur Anwendung, ja, sie steht mit derselben in Widerspruch.

Und indem der Kanon der Vorschriften [nur] vor der sothanen Erkenntnis der Seele in Wirkung steht, so erstreckt er sich nicht über den Bereich des im Nichtwissen Beruhenden hinaus.
 

So z.B. wenn es heißt: "der Brahmane soll opfern", so sind diese und ähnliche kanonische Vorschriften nur möglich, sofern man Kasten, āśramās (Lebensstadien), Lebensalter und andere unterschiedliche Zustände auf das Selbst überträgt. Diese Übertragung aber ist, wie wir sahen, die Annahme einer Sache da, wo sie nicht ist.
So wie daher jemand, wenn es seinem Sohne, seiner Gattin und dergleichen schlecht oder gut geht, zu sagen pflegt, "es geht bei mir schlecht oder gut", und damit Qualitäten von Außendingen auf das Selbst (die Seele) überträgt: ebenso auch überträgt er auf dasselbe Qualitäten des Leibes, wenn er denkt: "ich bin fett, ich bin mager, ich bin weiß, ich stehe, gehe, springe;"
und ebenso Qualitäten der Sinnesorgane, wenn er denkt: "ich bin stumm, entmannt, taub, einäugig, blind";
und ebenso die Qualitäten des Innenorgans, Verlangen, Entscheidung, Zweifel, Entschluss usw. (vgl. Brh. 1;5;3);
so also überträgt er den Vorsteher des Ich auf die seinen Verrichtungen lediglich als Zuschauer (sākṣin) gegenüberstehende innere Seele, und umgekehrt die allem als Zuschauer beiwohnende innere Seele auf das Innenorgan usw. [d. h. auf die Sinnesorgane, den Leib und die Gegenstände der Außenwelt].
So steht es mit dieser anfanglosen, endlosen, angebornen Übertragung, welche ihrem Wesen nach eine falsche Annahme ist, alle Zustände des Thuns und des Genießens [oder Leidens] hervorbringt und die Sinneswahrnehmung aller Menschen befasst.
Sie, welche die Ursache des Unheils ist, zu beseitigen und das Wissen von der Einheit der Seele zu lehren, – das ist der Zweck aller Vedāntatexte [d.h. der Upaniṣads].

Und wie dieses den Gegenstand aller Vedāntatexte ausmacht, so wollen auch wir denselben in dieser Śārīraka-Mīmāṃsā [Erforschung der verkörperten Seele] darlegen.


Über die verschiedenen Schulrichtungen und Formen des Vedānta wurde hier schon geschrieben.

Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa in der Übersetzung von Paul Deussen