Ṣad Darśana
Die sechs orthodoxen Philosophiesysteme der Hindus

Sāṃkhya

Das System der Sāṃkhya-Philosophie ist eines der traditionell sechs orthodoxen Philosophien des Hinduismus. Das dem Sāṃkhya am nächsten stehende System ist Yoga. Man kann sagen, dass Sāṃkhya nach dem Woher fragt, wohingegen Yoga nach dem Wohin, bzw. nach dem Wie des Wohin fragt. Im Sāṃkhya wird die Frage beantwortet, woher denn die Welt und alles was ist, denn kommt.
Die Ursprünge des Sāṃkhya und Yoga liegen im Dunkel indischer Geschichte. Es gibt zwei nennenswerte Thesen hierzu. Die eine besagt, dass das Yoga und das Sāṃkhya schon vorarisches, mindestens aber nichtarisches Gedankengut sind. Die andere These besagt, dass die Ursprünge des Sāṃkhya und Yoga in der Übergangszeit von der Upaniṣad-Zeit zur epischen Zeit liegen, und dass Sāṃkhya lediglich eine Art Entartung des vedāntischen, brahmanischen Gedankenguts darstellen.
Richard Garbe macht in seiner Übersetzung der Bhagavad-Gītā schon einen tiefen Gegensatz zwischen dem vedāntischen, brahmanischen Gedankengut und dem Gedankengut der Bhāgavatas, welches ein extrem ethisches Gedankengut der Kśatriyas ist, dessen philosophische Grundlage Yoga und Sāṃkhya ist. Im Gegensatz zu Paul Deussen setzt Richard Garbe das Alter des Sāṃkhya-Systems viel älter an. Beide, sowohl Deussen als auch Garbe, erwähnen als den Gründer des Sāṃkhya den Ṛṣi Kapila, und zitieren die Upaniṣad-Stelle Śvetāśvatara-Upaniṣad 5;2, welche das Sāmkhya-Yoga benennt, und den Ṛṣi Kapila als deren Begründer nennt. Doch an diesem Ṛṣi Kapila scheiden sich dann schon beide Geister. Für Deussen ist hier lediglich ein Idealtypus als Begründer des Sāṃkhyam genannt worden. Für ihn ist Kapila auch eher zu übersetzen als der „rote Ṛṣi“. Die Erwähnung des Ṛṣi Kapila hat des selben Wert, wie wenn als Urheber des bekannten Gesetzbuches Manu, der Stammvater des Menschengeschlechtes, gilt. Sowohl Deussen als auch Garbe sehen, dass es wohl ein älteres Sāṃkhyam und ein neueres gibt. Für Deussen ist etwa der Buddhismus eine Popularisierung des alten Sāṃkhya-Systems, jedoch hat das neue Sāṃkhyam natürlich nichts mit dem Buddhismus zu tun, weil dieses erst später als der Buddhismus aufgekommen ist. Das alte Sāṃkhya-System ist für Paul Deussen eine Übergangsphilosophie, welche die ausgehende Upaniṣadzeit mit der epischen Zeit des Mahābhārata verbindet. Gekennzeichnet ist das Sāṃkhya vor allem durch einen Einbruch an empirischem Bewusstsein, bzw. durch das Schwinden des reinen Idealismus der älteren Upaniṣads. Somit datiert Deussen das ältere Sāṃkhyam maximal in das fünfte vorchristliche Jahrhundert, denn genau in dieser Zeit lässt sich der Verfall der alten idealistischen Upaniṣadlehre verorten, dessen Zeugen jüngere Upaniṣads wie etwa die Śvetāśvatara-Upaniṣad oder die Maitrāyaṇa-Upaniṣad sind, in denen das alte Sāṃkhya-Yoga ja auch erwähnt wird. Das alte Sāṃkhyam ist für Deussen somit ein entarteter Vedānta, ein materialistisch verunreinigter Monismus, dessen Anfänge wohl im 4./5. vorchristlichen Jahrhundert zu suchen sind. Gewachsen ist dieses alte, epische Sāṃkhya dann schließlich in den didaktischen Teilen des Mahābhārata, was natürlich als Konsequenz besagt, dass das alte Sāṃkhya nicht älter als die didaktischen Teile des Mahābhārata sein kann.

Für Richard Garbe stellt sich die Situation jedoch anders dar. Für ihn ist das alte Sāṃkhya bedeutend älter als die didaktischen Teile des Mahābhārata. Die Gründe hierfür sind vor allem die Erwähnung des Sāṃkhya in Schriften, die bedeutend älter sind als das Mahābhārata, wie etwa das Kauṭilīya-Sūtra, oder die schon erwähnte Śvetāśvatara-Upaniṣad. Das Kauṭilīyam, welches man in das 3. vorchristliche Jahrhundert datiert, benennt den Yoga, das Sāṃkhya und den Materialismus (Lokāyata) als philosophische Systeme, die schon voll in Blüte standen. Zu dieser Zeit existierte noch kein brahmanisch geprägter Vedānta, der ja nach Deussen der Ausgangspunkt für die Bildung des Sāṃkhya gewesen sein soll. Zudem ist die Erwähnung des Sāṃkhya und eine kurze Beschreibung dieses Systems in der Śvetāśvatara-Upaniṣad Beweis genug, dass das alte Sāṃkhya bedeutend älter ist, als die Didaktikteile des Mahābhāratas, denn diese Upaniṣad fällt in das fünfte vorchristliche Jahrhundert, und somit etwa hundert Jahre vor die erste Abfassung des Mahābhāratas.

Für Garbe ergibt sich aus den doxographischen Quellen eindeutig: „Beide Lehren [Sāṃkhya und Yoga] sind – und zwar nicht in Vorstufen, sondern als Systeme – viel älter als die didaktischen Teile des Mahābhārata; und die zur Ekstase führenden Übungen, welche die Grundlage des Yoga-Systems bilden, reichen bis in die grauste Vorzeit zurück.“
Damit ist zwar bewiesen, dass es vor dem klassischen Sāṃkhya- und Yoga-Systems ältere Systeme gegeben hat, jedoch gibt es keine doxographischen Beweise dafür.
Die Sāṃkhya-Theorie, so wie wir sie heute vorliegen haben, stellt eine Art Ent-Wicklung – im ursprünglichsten dieser Wortbedeutung: Auswicklung – dar, und entwickelt aus den Urprinzipien des Puruṣa und der Prakṛti seine ganzen Kategorien:

1. Puruṣa
2. Prakṛti
3. Intelligenz (buddhi)
4. Ichbewusstsein (ahaṁkāra)
5. Denkvermögen bzw. Geist (manas)
6. zehn Sinnesorgane (indriyani)
a. fünf Sinne der Erkenntnis (buddhīndriyani)
Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Sehen
b. fünf Sinne der Tat (karmendriyani)
Hände, Füße, Zunge, die Organe der Fortpflanzung und die Organe der Ausscheidung
c. fünf feine Sinnesobjekte (tanmātras)
Ton, Berührung, Gestalt, Geschmack, Geruch
d. fünf grobe Sinnesobjekte (mahābhūtani)
Raum, Luft, Feuer, Wasser, Erde
 

Das Urprinzip ist der Puruṣa und die Prakṛti, also eine Zweiheit . Wenn Puruṣa (bewusster Geist, ruhend) auf Prakṛti (Urmaterie, aktiv) trifft, so befruchtet er Prakṛti und aus dieser Verbindung entstehen alle Elemente der Sāṃkhya-Philosophie. Das erste Element ist Puruṣa, daraus geht die Prakṛti hervor als zweites Element, aus ihrer Vereinigung entstehen dann, die reine Intelligenz (buddhi), Ichbewusstsein (ahaṁkāra), Denkvermögen bzw. Geist (manas). Daraus entstehen die zehn Sinnesorgane (indriyani). Diese zehn Sinnesorgane bestehen aus fünf Sinnen der Erkenntnis (buddhīndriyani) und fünf Sinnen der Tat (karmendriyani). Aus den Sinnesorganen entstehen dann die fünf feinen Sinnesobjekte (tanmātras) und die fünf groben Sinnesobjekte (mahābhūtani). Zusammen mit dem Puruṣa hat die Sāṃkhya-Philosophie also 25 Elemente oder tattvas, aus denen heraus die Welt erklärt wird.
Zusätzlich dazu gibt es noch drei Qualitäten, die in der Welt vorherrschen, nämlich die Guṇas. Alle Elemente außer dem Puruṣa werden in drei Kategorien eingeteilt: In die Kategorie der Reinheit (sattva), die Kategorie der Leidenschaft und der Dynamik (rajas) und in die Kategorie der Trägheit und Dumpfheit (tamas). Diese tattvas werden in vier Wesenheiten eingeteilt:

1. Wesenheiten, die erschaffend aber unerschaffen sind (Prakṛti)
2. Wesenheiten, welche erschaffen und erschaffend sind (buddhi, ahaṁkāra und die fünf tanmātras)
3. Wesenheiten, welche erschaffen und unerschaffend sind (manas, buddhīndriyani, karmendriyani und die fünf mahābhūtani)
4. Wesenheiten, welche unerschaffen und unerschaffend sind (Puruṣa)

Erkenntnistheoretisch vertritt Sāṃkhya die Theorie, dass die Welt etwas ist, was wir schon im Bewusstsein haben. Von der Leinwand des Bewusstseins projizieren wir die Welt nach außen, und so entsteht dann auch Wirklichkeit.
Im Gegensatz zu Aristoteles und zur Stoa ist die Kategorienlehre der Sāṃkhya-Philosophie nicht nur eine Lehre, die innerhalb der Logik beheimatet ist, sondern die eine Erklärung für Welt, bzw. Weltentstehung geben möchte. Das oberste Ziel dieses Systems ist aber nicht die reine Erklärung von Welt, sondern das oberste Ziel wird gleich im ersten Vers der Hauptschrift des Sāṃkhya-Systems, der Sāṃkhya-Kārikā, mitgeteilt: „Dreifacher Schmerzen Andrang weckt die Forschung nach Mitteln ihrer Abwehr. […]“ Sāṃkhya möchte ein Mittel sein, das zum Heil führt. Dazu werden dann die notwendigen „Schritte“ bestimmt, zu denen unter anderem die gültigen Erkenntnismittel (prāmaṇas), aber auch die ontologischen und psychologischen Verfasstheiten des Menschen gehören. Seine Verortung im Ganzen stellt den kosmologischen Teil dar, während die Erlösungslehre im Sāṃkhya darin besteht, dass die Prakṛti erlöst wird. Dies geschieht durch den Vorgang des Studiums der tattvas, und der daraufhin folgenden Nichtidentifizierung mit diesen. Der Puruṣa erschaut die Prakṛti und diese erschaut ihn. Beide wenden sich ab, und erkennen keinerlei Grund mehr, die Schöpfung, die durch die Befruchtung der Prakṛti durch den Puruṣa entsteht, weiter laufen zu lassen. „Sie ist erkannt! So spricht er und verschmäht sie. Ich bin erkannt! So spricht sie und lässt ab. Wenn auch besteht noch die Verbindung beider, so liegt doch kein Motiv mehr vor zum Schaffen.“ Das Sāṃkhya-System kommt zu diesem Zustand durch Nichtirrtum. Nichtirrtum wird erreicht durch das Studium der tattvas. Die Folge ist ein Bewusstsein, das nicht mehr, wie ein Töpferrad, sich dreht und beständig Neues schafft, sondern das still steht und dem ewigen Schaffen Einhalt gebietet. Das Schwestersystem zum Sāṃkhya ist das Yoga. Im Yoga schließlich werden verschiedene Methoden aufgezeigt, die diesen Zustand herbeiführen können. Dieser Zustand des Nicht-mehr-schaffens wird im Yoga Nirvāṇa genannt, was man übersetzen kann mit Nicht (nir) wehen (vāṇa). Die Thematik, um dies dem Yoga-System geht ist definiert im zweiten Sūtra der Yoga- Sūtras: „yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ“ „Yoga ist das Nicht-Wehen (nirodha) der Eindrücke (vṛtti) im Bewusstsein (citta). Jeder andere Geistzustand ist dadurch gekennzeichnet, dass er eine Identifikation mit den Inhalten dieser Geistzustände hat , also eine Identifikation mit der Prakṛti. Eine Identifikation wird unmöglich, wenn das Bewusstsein nicht mehr mit Inhalten gefüllt ist, wenn keine Bewusstseinsinhalte mehr wehen, bzw. wenn, in der Terminologie des Sāṃkhya gesprochen, die Töpferscheibe stillsteht.

Sāṃkhya-Kārikā in deutsch zum downloaden

Die Samkhya-Philosophie von Richard Garbe