ad Darśana
Die sechs orthodoxen Philosophiesysteme der Hindus

Mimāṃsā

Jaiminī gilt als der Autor des ursprünglichen Mimāṃsā-Sūtra. Entstanden ist dieses Werk etwa um 400 v. Chr. . Das zentrale Ziel des Mimāṃsā-Sūtras war eine Erörterung über die Natur des Dharma. Dharma meint im weitesten Sinne Ordnung. Im Kontext des Handelns einer Einzelperson meint Dharma auch Pflicht. Unter Pflicht versteht man das, was man seiner Natur entsprechend zu tun hat. In diesem Sinne ist das System des Mimāṃsā eine Erörterung über die Pflichten des Menschen im Allgemeinen, sowie eine Ritualwissenschaft im Speziellen. In seinen Anfängen gehörte Mimāṃsā den brahmanischen Systemen, die den Veda als höchste Autorität anerkennen und den Sinn der heiligen Worte erörtert an. Die Anhänger der Mimāṃsā-Philosophie waren bemüht, die in den Texten des Veda zerstreuten Angaben über die zu vollziehenden Zeremonien eine einheitliche Deutung zu geben und so verbindliche Regeln sowohl für die Tat (karma) als auch für die religiösen Pflichten (dharma) aufzustellen. Der grundlegende Text, das Mimāṃsā-Sūtra stellt eine Zusammenfassung derartiger Regeln dar. Da sich diese Erörterungen auf den vorderen oder früheren (pūrva) Teil der Upaniṣaden beziehen, werden sie auch als Pūrva-Mimāṃsā bezeichnet. Im Gegensatz dazu wird das System des Vedānta als Uttara-Mimāṁsā bezeichnet, denn es beschäftigt sich vor allem den Upanishaden, die nichts mit dem Ritual des Veda zu tun haben.

Während die Lehren der Mimāṁsā in der Gegenwart keine große wissenschaftliche Beachtung finden, ist ihr Einfluss im täglichen Leben des praktizierenden Hindus groß. Alle Rituale, Zeremonien und religiösen Gesetze werden durch die Anschauungen des Mimāṃsā beeinflusst.

Zusätzlich zu den oben beschriebenen Untersuchung findet man auch ausführliche Diskussionen über Laute, Wörter und Bedeutungen, also einer Hermeneutik der verschiedenen Hymnen und Mantras des Veda. Hierbei wird versucht, von einer einfachen, wörtlichen Interpretation bis hin zu abstrakten Deutungen des Veda, jeder Bedeutungsebene gerecht zu werden. Das Wort Mimāṁsā ist abgeleitet von dhātu mān + san. Es bedeutet soviel wie "der Wunsch nach Wissen" oder auch "Diskussion" und "Untersuchung". In diesem Sinne wird das Wort auch im Veda gebraucht.

Der späte Mimāṁsā widmet sich kaum noch der Ritualistik. Vielmehr stehen Fragen der Erkenntnistheorie im Mittelpunkt. Mimāṁsā wird so zu einer Tradition, die versucht, Gesetze aufzustellen, die, wenn sie befolgt und angewendet werden, eine richtige Erkenntnis als Ergebnis vorweisen können. Die Erkenntnistheorie des Mimāṁsā kennt im Gegensatz zum Nyāya-System mehr als nur vier erkenntnismittel. Das Pūrva-Mimāṃsā-System listet sechs erkenntnismittel auf. Neben der direkten Wahrnehmung (pratyaksa) Schlußfolgerung (anūmāṇa), Analogie (upamāṇa) und mündlicher Aussagen (śabda), zählt es noch die Erkenntnismittel der Hypothese (arthāpatti) sowie die Negation (abhāva) auf.
Die Methode der Hypothese ist auch aus historischer Sicht interessant, da es die Grundlage der späteren naturwissenschaftlichen Methode darstellt.
Das Erkenntnismittel der Hypothese (arthāpatti) funktioniert folgendermaßen: Nehmen wir an, jemand läßt einen Stein fallen. Wir beobachten diesen Vorgang bei dieser Person mit genau diesem Stein ein paar mal, und formulieren dann eine allgemeine Hypothese die folgendermaßen lauten könnte: "Jedes mal, wenn diese Person seine Hand öffnet, wird der Stein zur Erde fallen." Das Ziel der Mimāṃsā-Philosophie war es aber, ganz allgemeine Hypothesen zu formulieren, und durch Trennung des Besonderen vom Allgemeinsten, universale Aussagen machen zu können. Im Falle der Person mit dem Stein könnte das so aussehen: "Jedes mal, wenn diese Person irgendeinen Stein in der Hand hält, und die Hand öffnet, wird dieser und jeder andere Stein zur Erde fallen." Ja vielmehr noch: "Jedesmal, wenn irgendeine Person irgendetwas in der Hand hält, und die Hand öffnet wird dieses Etwas an jedem Ort zur Erde fallen." Auf diese Art und Weise kann man die allgemeinste Aussage machen, dass alles, was nicht festgehalten wird, nach unten fällt. Auf diese Weise habe ich die Hypothese gewonnen, dass alle Dinge immer nach unten fallen werden, und daraus gewinnt man die Fähigkeit, Vorhersagen zu machen, das heißt so etwas wie "Naturgesetze" zu formulieren. Man abstrahiert das Besondere und gelangt auf dem Weg des Allgemeinsten zu einer universal gültigen Aussage, bzw. Wirklichkeitsbeschreibung, die immer und überall Gültigkeit hat, und die es einem gestattet, gewisse Zusammenhänge vorherzusagen.
Gleichzeitig galt, dass alles was man irgendwie beobachten kann, seiner Natur folgt. Und die Natur von etwas ist das Dharma dieses Etwas. Dharma ist aber nichts, was von außen an die Sache herangetragen wird, sondern Dharma ist der innerste Kern der Dinge. Am Beispiel der Person, die einen Stein fallen läßt, bedeutet das, dass nicht ein Dämon oder ein Geist diesen Stein zu Boden trägt, sondern der Stein folgt seiner inneren Natur, und entspricht in dieser inneren Natur eben dem ewigen, allgemeinen Gesetz des Universums. Und dieses allgemeine Gesetz ist allen Dingen und allen Wesen des Universums eingepflanzt. So ist es nicht ein Geist oder ein Dämon, der den Stein zu Boden trägt, sondern das universelle Gesetz, dass die Steine zu Boden fallen, wenn man sie loslässt. Die Steine erfüllen somit ihr Dharma auf perfekte Weise, sie gehorchen dem universellen Gesetz, dem ewigen Dharma.
Der Veda aber wird als Emanation dieses kosmischen Gesetzes gesehen. er ist sozusagen die Blaupause des Universums. Das bedeutet dann aber, dass der veda nicht nur einfach ein Buch, ein Text oder irgendwelche Götterhymnen sind, sondern er ist eine strukturelle Beschreibung des Universums. Und hier erkennt man dann auch, warum das System des Pūrva-Mimāṃsā überhaupt hermeneutisch tätig war: Den Veda zu verstehen bedeutete das Universum zu verstehen. Wer den Veda kennt, kennt alles! Deshalb ist es auch logisch, warum das Mimāṃsā-system Abstand nimmt von einer wörtlichen Interpretation des Veda, und eher einer abstrakt-symbolischen Interpretation zugeneigt ist.

Das andere Erkenntnismittel ist abhāva oder Negation. Dieses Erkenntnismittel gehört zu den zentralen Punkten der Logik. Es besagt, dass Aussage, z.B. "Dieses und Jenes ist!" nur machbar ist, weil es sich eben abhebt von der Aussage "Dieses und Jenes ist nicht!" Jede Definition oder Aussage ist somit nicht einfach eine Bestimmung von etwas, sondern ist gleichzeitig immer ein Aussortieren all dem, was es eben nicht ist. Wenn ich die Aussage mache, dass dieses Tier hier ein Tiger ist, dann habe ich damit gleichzeitig ausgesagt, dass dieses Tier eben kein Elefant oder keine Kuh ist. In den spärlichen Versuchen einer Ontologie der Mimāṃsākas hat man schon erkannt, dass jedes Sein nur deswegen sein kann, weil es eben auch ein Nichtsein gibt, von dem sich Sein abhebt. Das Erkenntnismittel der Negation angewendet auf Dharma bedeutet dann dieses: Der Veda, ja viel mehr noch alle Begriffe und Worte werden als ewig angesehen, als universales Gesetz des Universums. Das Mimāṃsā-system entwickelt hier eine ähnliche Lehre wie die Ideen-Lehre des Platon. Mit genau den selben Erklärungen und auch mit genau den selben fehlern wie die platonische Ideenlehre. Diese Fehler führten dann in späteren Zeiten zu den diversen Dualismen, die immer religiös waren, und die analog zum Christentum eine Art Zwei-Welten-Lehre, Reich-Gottes-Lehre postulierten.
Zurück zum Dharma: Dieses ewige Dharma unterscheidet sich von den sozialen und kulturellen Sitten und Gebräuchen daghingehend, dass diese eben nicht ewig sind. Sie werden irgendwann einmal vergangen sein, da man sie der Zeit entsprechend anpaßt. Weil es das ewige Dharma gibt, also den Veda (śruti), ist damit gesagt, dass es auch einen nichtewigen Dharma geben muß (smṛti). Im Bereich der Pflichten des Menschen bedeutet dies nun, dass man einem Dharma nur folgen soll, wenn es zum Einen der eigene Dharma ist, also die innereste Natur meiner selbst. Und dass dieses dann auch dazu legitimiert, dass man gesellschaftliche, soziale Normen (also einen nichtewigen Dharma) aus diesem Grunde auch übertreten kann. Der ewige Dharma (śruti), in diesem Fall die innerste Natur meiner Selbst zählt mehr, als der nichtewige Dharma (smṛti). Im Bereich der Hermeneutik heißt das dann: Wenn eine śruti-Schrift, z.B. eine Upaniṣad, einem smṛti-Text, z.B. einem Gesetzestext wie der Manu-smṛti, widerspricht, so ist der śruti der Vorzug zu geben. Diese Idee wird auch im Vedānta noch vertreten.

Die Mimāṃsā-Tradition wurde vom Vedānta verdrängt, bzw. absorbiert. Es gibt eine Geschichte von Shankara, wo er einen Mimāṃsā-Philosophen im Streitgespräch besiegte. Dieser Mimāṃsā-Philosoph, sein Name war Maṇḍana Miśra, wurde dann einer der größten Schüler Śaṅkaras, nämlich der Linienhalter von Śringeri-Maṭha im Süden, Śrī Sureśvarācārya. Diese Geschichte zeigt auf, wie die Mimamsa-Philosophie ihr "Ende" fand, sie wurde zu einem kleinen unbedeutendem Teilchen der Vedānta-Philosophie und der Logik (Nyāya).