Hinduismus - Ein indischer Mythos
von Heinrich Zimmer
Der nachfolgende Text ist ein mythischer Blick, eine eher geistig-intuitive Sicht, die man diesem Thema gegenüber einnehmen könnte; vielleicht aussagekräftiger und deutlicher als jede wissenschaftliche, historische oder sonstwie gefärbte Beschreibung dessen, was Hinduismus ist: Heinrich Zimmer beschreibt in seinem Aufsatz „Der indische Mythos“ wunderschön, wie sich uraltes vorarisches Gedankengut und vedisches, also arisches Gedankengut treffen und wie beide miteinander auskommen müssen in ihrer Grundverschiedenheit. Und schon hier hat man sozusagen die Trennung zwischen dem, was typisch brahmanisch ist, und was eher das pulsierende Leben des Volkes ist. Das Bild der Hochzeit zwischen dem vedischen Rudra, also Śiva, und der Tochter der Berge, Pārvatī, zeugt von der Vermischung und der Einigung dieser beiden Weltsichten.

Der spätere Hinduismus ist sozusagen ein lebendiges Zeugnis dieser Hochzeit. Gegründet in der priesterlich-arischen Weltdeutung erleben die autochthonen Kulte Indiens ein Wiederaufleben und sprudeln über in den vielen Bildern, Mythen, Kulten und Gebräuchen. Fast könnte man sagen, dass die urindischen, die autochthonen Kulte einen heimlichen Sieg errungen haben, und nur nach außen hin, dem geordneten Brahmanentum die Position des Siegers gegeben haben.
„In diesem weitesten Zeitraum mit Auf- und Niedergängen, Hell und Dunkel, strömt als göttliches Weltgeschehen Mythos ein aus zwei Welten: aus der vedisch-arischen und der eingeboren-indischen. Hier finde er einen gegliederten Rahmen, den zyklischen Zeitlauf: eine Bahn, sich zu entrollen. Die einzelnen Mythen, im Veda um Götter, Heilige und Fürsten geballt, im anderen Indien gebunden an Berg und Fluss, Wallfahrtsorte und heilige Badeplätze finden sich zu epochalem Nacheinander, ordnen sich zu einer sinnbildlichen Geschichte indischer Gottgestalten, Kultformen, Lebensordnungen und Weltbilder. [...] Die arischen Götter sind, wie ihr Volk in seiner nomadischen Vergangenheit, an keinen Ort gebunden, fahren auf Wagen daher, wie jenes in Zeltwagen – in himmelschwebenden Wagenwelten. Nirgends auf Erden verhaftet, kommen sie zum Opfermahl, wo ihre Priester den heiligen Bezirk ausmessen und weihen.
Daneben von ihnen besiegt, aber zäh und mächtig, überall in Fluß und Berg zu Haus, die alten Götterkräfte mit Tempeln und Wallfahrtsorten: Berggottheiten und Schlangengötter der Wasser, mit seligen Welten am Grunde, und andere Hüter der Fruchtbarkeit und nährenden Feuchte in Wolken und Erde, Hüter der Erdschätze an edlem Metall und Gestein. Mit Kobrahauben und Elefantenkopf, auf Pfau und Tiger reitend, allen Kräften indischer Erde verwandt, wie die rosselenkenden Sieger ihr fremd.
Eine eigenartige Göttergesellschaft: diese Neuen. Es mangelt an Frauen. Indra, ihr König, hat zwar eine Gattin, aber sie hat kein Gesicht, hat keinen Namen. Sie heißt nur Indrānī, ist nur sein weiblicher Schatten. – Und alle sind kinderlos. Ein Weib wird unter ihnen greifbar, die Morgenröte, aber sie ist ein verbuhltes Mädchen. – Wo sind die Mütter? – das ist ein reiner Männerverband. Da muss noch ein männlicher Gott das Gebären besorgen: »der Herr der Ausgeburten« (Prajā-pati) bringt die Geschöpfe hervor: er erhitzt sich und schwitzt sie aus – oder er legt ein Weltei und bebrütet es. Welch sonderbar männliche Welt – und ihren Menschensitten streng auf Vaterrecht gestellt.
Daneben die alte Mutter Indien, mit Muttergöttinnen ohne Zahl, mit Götterfrauen, Schlangenweibern, Baumgöttinnen, Göttinnen der Gebirge. Allen voran die »Bergestochter« (Pārvatī), Kind des höchsten Himālaya, und ihr anderes Ich, die Herrin des Vindhyagebirges im Süden, daneben die Mütter, die Fieber und Blattern wehren, und viele andere. [...] Der Mythos gibt sinnbildlich zu lesen, wie dies Gegensätzliche sich durchdrang. Er verknüpft die alten lokalen Kulte mit den Göttergestalten des freischwebenden, er deutet die ortgebundenen alten und kleinen Kräfte als Erscheinungsformen jener weltweiten großen, setzt an ihre Stelle brahmanische Heilige, bindet raumloses mythisches Geschehen an altgeheiligte Stätten. Vorarische Götter werden, wie alte und neue Heilige, zu Inkarnationen des vedischen Viṣṇu, er saugt sie auf, nimmt sie zu Masken, die er, Mal um Mal aus überweltlicher Ruhe in den Weltlauf eingreifend, nach Wahl sich vorhält. Genealogien entstehen, in denen das Blut beider Götterkreise sich mischt, wie im Leben der indischen Stämme und Rassen.
Das höchste Sinnbild dieser Verschmelzung bietet der große Mythos von der endlichen Vermählung des vedischen Śiva mit der Tochter des Himālaya. Da finden sich beide Welten zur Eintracht der Ehe. Ihre Kinder sind der elefantenköpfige Gott und der Gott auf dem Pfau, vorarische alte Gestalten. Alle Götter mühen sich, diesen Bund zustande zu bringen, auf dass aus ihm der pfauenreitende Kriegsgott als Kind des »Großen Gottes« (Mahādeva) und der höchsten Göttin geboren werden, mit seinem Siege über die Dämonen die Welt neu zu ordnen. Schwierigkeiten türmen sich auf, schließlich gelingt es, das Paar zu einen. Aber nicht ohne Mühsal, Enttäuschung und Wunder tritt schließlich das sieghafte Kind ins Leben. – Und absonderlich ist auch die Entstehung und Verbindung zum Vater beim elefantenköpfigen »Sohne« Śivas. Die langen Kämpfe, die es gekostet hat, bis tiefe Gegensätze sich versöhnten, spiegeln sich in den Verwicklungen und Wundern mythischen Geschehens, das schließlich das Einswerden des Alten mit dem Fremden feiert. [...] Dabei siegte das Alte (wenn auch das Neue, gewandelt, sprachlich die Form gibt). Die indische Mutter wandelt den Eroberer und Gast, der aus ihr sich nährt, zu ihrem Kinde; [...]“
„Die Kulte, die sein [Indiens] letztes Zeitalter beherrschen, die großartige und vielschichtige Religion der Tantras, sind uralten vorarischen Gutes voll, das neu zur Herrschaft kommt.“