Nicht Hinduismus, sondern sanātana-dharma

Was ist Hinduismus? Hinduismus ist etwas, was es eigentlich gar nicht gibt, denn kein „Hindu“ würde seine Religion, seine Form des spirituellen Lebens als Hinduismus bezeichnen. Die Betreffenden sprechen eher von sanātana-dharma, also von der ewigen Ordnung, der ewigen Religion, der ewigen Wahrheit eines jeden Menschen. Und mit diesem Begriff des dharma, der wohl auch so viel wie Pflicht bedeuten kann, kann man dieses Phänomen einer Vielzahl von Religionen, Philosophien, Meinungen, Glaubensvorstellungen und Erlösungswegen irgendwie unter einen Hut bringen. Mit dem Begriff Hinduismus hat man folgendes Problem: Welche Person, oder besser welche Gruppe kann man als repräsentativ für den Hinduismus sehen? Keine! Hinduismus, reicht vom halbnackten Saddhu, der, mit Asche eingerieben, bettelnd am Straßenrand sitzt über verschiedene mönchische Traditionen mit unterschiedlichen Gottesvorstellungen bis hin zum reichen Möchtegernswami, der in irgendeinem noblen Privataśrama reichen, zivilisationskranken Westeuropäern mit einem selbstgestrickten Yoga das Geld aus der Tasche zieht.
Dieser Begriff des dharma bedeutet nicht nur Pflicht oder Ordnung, es ist vielmehr die Mitte, die Richtschnur des ganzen Lebens, die Kraft, die eine geordnete Welt möglich macht, das Gesetz des Kosmos, das in sämtlichen Dingen vorhanden ist, und durch das auch sämtliche Dinge überhaupt weiterbestehen können. Und diesen Begriff des dharmas findet man im Namen einer der vielschichtigsten und sonderbarsten Religion wieder. sanātana-dharma, der ewige dharma. Um dharma für den Westeuropäer etwas näher zu bestimmen kann man folgendes sagen: Der dharma von Wasser ist es, dass es nass ist, der dharma von Eis ist es, dass es kalt ist, der dharma des Feuers ist die Hitze, wenn ich nun ein Feuer vor mir habe, an dem ich mir nicht die Finger verbrennen kann, dann verfehlt das Feuer seinen dharma. Wenn ich nun einen Menschen vor mir habe, dessen einzige Tätigkeit im Leben das Essen, Trinken, Schlafen, zur Arbeit gehen, das sich Verteidigen und das Sich-Paaren ist, so verfehlt der Mensch seinen dharma, denn er folgt dem dharma eines Tieres.

Varnāśrama-dharma

Der Begriff des dharma kommt noch in einem anderen Wort vor, das für das sanātana-dharma sehr wichtig ist, nämlich in dem Wort varnāśrama-dharma. Das Wort setzt sich aus drei Wörtern zusammen, nämlich aus varna, aus aśrama und aus dharma. Unter varna versteht man das, was im Westen als Kastensystem bekannt ist, unter aśrama versteht man die vier verschiedenen Lebensstände eines Menschen und der letzte Begriff ist wieder das altbekannte Wort dharma. Es gibt insgesamt vier varnas, also vier Einteilungen von Menschen, das sind die Brāhmaṇas, die Brāhmanen, deren Aufgabe es ist, für Spiritualität innerhalb der Gesellschaft zu sorgen. Brāhmanen sind Mönche, Priester, spirituelle Lehrer, Gurus etc. Die nächste Einteilung oder Kaste sind die Kśatriyas, das sind weltlichen Herrscher, Beamte, Verwaltungsangestellte und Krieger.

Sie haben dafür zu sorgen, dass es der Gesellschaft, dem Staat, gut geht, dass keiner Hunger zu leiden hat, dass es keine Verbrechen gibt, und sie sind es, die den Staat gegen jede Art von Aggression von außen zu verteidigen haben. Die nächste Kaste ist die der Vaiśyas, das sind die Geschäftsleute, Händler und die Bauern, ihre Aufgabe ist es, für das Leibliche Wohl der Gesellschaft zu sorgen, für Essen und Trinken, für Kleidung und alles andere, was man so benötigt. Die letzte Abteilung ist die der Śudras, das sind Handwerker und Arbeiter. Man darf jetzt nicht meinen, dass das Kastensystem eine ungerechte Angelegenheit sei, die zur Unterdrückung von gewissen Gesellschaftsschichten führt. Jede Kaste bringt an der gesamten Gesellschaft Dienst dar. Die Brāhmanen bringen der Gesellschaft Spiritualität, die Kśatriyas bringen Schutz und Sicherheit, die Vaiśyas bringen alles was man zum Leben braucht und die Śudras bringen Dienstleistungen und Arbeitskraft in die Gesellschaft ein. Man wird nicht durch Geburt in eine Kaste aufgenommen. Das entscheidende für die Mitgliedschaft in eine Kaste ist die eigene Qualifikation. In der Bhagavat-Gīta, der Bibel Indiens heißt es, dass man seine Pflicht, sein dharma ausüben sollte, das was man kann, soll man machen. Man sollte aber niemals die die Pflichten also das dharma eines anderen verrichten. Wenn jemand beispielsweise in einer Brāhmanenfamilie auf die Welt kommt, und sich aber absolut nicht zum Priester eignet, dann soll er was anderes machen, z.B. Landwirt werden, zum Militär gehen und dort dann das machen, was er kann. Umgedreht ist es genauso, ein Sohn eines Bauern, der von Feldarbeit wenig hält, aber meisterlich religiöse Rituale durchführen kann, und der philosophisch bewandert ist, der soll Brāhmane werden, weil er in dieser Kaste das beste, für die Gesellschaft tun kann, weil er diese Aktivität am besten Ausführen kann.
Das war der erste Begriff des varnāśrama-dharma. Der zweite war aśrama. Darunter versteht man die Lebensabschnitte eines jeden Menschen. Der erste Lebensabschnitt wird brahmachari genannt und beginnt mit etwa zwölf Jahren. In diesem Alter begibt man sich zu einem Guru, zu einem spirituellen Lehrer, um bei ihm alles über Religion und Philosophie zu studieren. Nach dieser Lehrzeit, die meistens bis zum 20. oder 24. Lebensjahr andauert, befindet man sich im Lebensabschnitt des gṛhastas, des Haushälters oder Hausvaters, das heißt man gründet eine Familie, übt einen Beruf aus und führt ein nach religiösen Richtlinien geführtes Leben. Dann im Alter von etwa 50 bis sechzig Jahren, zieht man sich aus dem Familienleben zurück. Man übergibt die Familiengeschäfte einem jüngeren nahen Verwandten, der die Aufgabe hat für die Familie zu sorgen, und begibt sich dann in eine Einsiedelei, in einen Wald um das Leben eines zurückgezogenen Einsiedlers, eines vanaprastas zu führen. Nach ein paar Jahren begibt man sich schließlich zu einem Guru, um sich von ihm die Weihe zum sannyasin geben zu lassen. In diesem Lebensstand besitz man genau soviel wie zur Geburt, nämlich gar nichts, höchstens noch die Kleider, welche man am Leib trägt. Man zieht nun als Bettelmönch predigend und den dharma lehrend durch die Welt.
Die beiden Begriffe varna und aśrama werden mit dem Begriff des dharma in Verbindung gebracht. Dies geschieht aus folgendem Grund. Die Einrichtung der Kasten und der Lebensabschnitte eines Menschen sind, so erfährt man aus der Bhagavat-Gīta und aus dem Ṛg-Veda, Abbild einer höheren Ordnung. Sie zeigen hier auf der Erde, hier in der materiellen Welt Strukturen, die ewig und grundlegend sind. Dieses System ist, wenn man so will, eine Hilfe für die Menschen, weil es verhindert, dass sich diese in unwichtigen Handlungen verlieren, die in unserer westlichen Zivilisation leider zur Norm geworden sind. Dieses System hilft dem Menschen, sich über den Stand von Nahrungsaufnahme, Schlafen, sich Verteidigen und sich Paaren zu erheben. Dieses System macht aus dem intelligenten Tier namens Mensch einen wirklichen Menschen.
Mit diesen beiden Begriffen, sanātana-dharma und varnāśrama-dharma hat man eigentlich den ganzen Bereich den man Hinduismus nennt abgesteckt und beschrieben.
Das dharma des Menschen ist es, zu erkennen wer er ist, und dann dementsprechend zu handeln.
Aber hier fängt es dann auch schon an: Handeln. Was ist denn Handeln? Was bewirkt Handeln? Was sind die Folgen des Handelns? Was sollten die Motive des Handelns sein? Wer handelt überhaupt, was handelt da? Bin das ich? Wer bin ich überhaupt? Gibt es noch mehr als mich?.... ja genau, irgendwann kommt mal die Frage nach Gott oder Wahrheit. Wie man merkt befindet man sich jetzt auf einmal in einem Meer von Fragen, die dann zu einem zweiten Meer von Antworten führte. Und hier fängt indische Religion, das sanatana-dharma plötzlich an, vielseitig zu werden, vielverzweigt und vielschichtig. Und in der Tat vergleichen die indischen Traditionen ihre Religion(en) auch mit einem Baum, dessen Wurzeln im Himmel sind, im Bereich der Wahrheit. Die Äste aber sind hier auf der Erde, sind hier im Relativen.

Ich hoffe, der werte Leser hat jetzt genug von diesen traditionellen, schöngefärbten und gut gemeinten Ideen, was denn Hinduismus ist. Wenn Sie ehrlich sind, dann wissen Sie ja immer noch nichts über dieses Phänomen Hinduismus. Deswegen gibt es noch einen Versuch, das Phänomen Hinduismus von einer historischen Warte aus zu beschreiben.