Die Vedāṇgas

Die Glieder der "vedischen Wissenschaften"

Vedāṇgas sind Texte, die sich mit speziellen Themen, die im Veda noch nicht so ausführlich behandlt wurden, auseinandersetzen. Die Vedāṇgas sind Ergänzungen zu den Veden, um diese richtig lesen, verstehen und anwenden zu können. Die Vedāṇga-Schriften behandeln meist im Sūtra-Prosastil, lehrbuchartig die Themen der sechs Hilfswissenschaften, nämlich:

I.
  Śikṣā  
Phonetik, Kenntnis der Buchstaben, Artikulation, Sandhiregeln
II.
  Chandas   Metrik
III.
  Vyākaraṇa   Grammatik
IV.
  Jyotiṣa   Astronomie/Astrologie
V.
  Kalpa   Rituallehre
VI.
  Nirukta  
Exegese, Etymologie, Erklärung wichtiger vedischer Wörter, dem Grammatiker Yaska zugeschrieben

Phonetik und Metrik sollen zur korrekten Rezitation und Aussprache des Veda beitragen, Grammatik und Etymologie dienen dem richtigen Verständnis, und Astronomie und Ritual sollen die korrekte Durchführung der Rituale zum richtigen Zeitpunkt sicherstellen.
Die Vedāṇgas werden erstmals in der Muṇḍaka-Upaniṣad erwähnt. Ursprünglich waren damit nicht unabhängige Bücher oder Schulen gemeint, sondern nur Themen, die beim Veda-Studium behandelt werden sollten, um den Veda richtig zu verstehen. Im Laufe der Zeit wurden diese Fächer immer systematischer bearbeitet und es entwickelten sich spezielle Schulen für die sechs Vedangas. Daraus entstanden dann unabhängige Textbücher, die im Sūtra-Stil verfasst wurden.

I.) Śikṣā ist der Teil der Vedāṇgas, der sich mit der korrekten Akzentuierung, Betonung und Melodie der Vedarezitationen beschäftigt. Diese Schriften sind jedoch im Laufe der Zeit verloren gegangen. Richtige Intonation der vedischen Mantras, war die Voraussetzung dafür, daß der Klang des Veda seine volle Kraft entfalten kann.

II.) Chandas ist die Wissenschaft der Metrik. Diese Wissenschaft, welche vor allem die Priester des Sāma-Vedas benutzten, wurde gebraucht, um die Gesänge des Sāma-Vedas richtig zu intonieren, denn die richtige Intonation und das richtige Versmaß sind nach damaliger Vorstellung wichtig gewesen, um die entsprechende Wirkung der Mantras zu erziehlen. So findet man in einigen Upaniṣaden Erklärungen darüber, welches Versmaß das höhere oder göttlichere ist. Während in der alten Zeit natürlich das Versmaß gāyatrī hoch angesehen ist, erklären andere Upaniṣaden, welche dem (späten) Atharva-Veda zugeordnet werden, daß das Versmaß anuṣṭubh das höchste ist (natürlich auch nur, weil in diesem Versmaß ein besonderes Mantra einer besonderen viṣṇuitischen Sekte abgefaßt ist, nämlich der Mantra-Rāja zu Ehren Lord Nṛsiṃhadevs).

III.) Vyākaraṇa hat die Grammatik zum Gegenstand. Dieses Vedāṇga hatte seine Entfaltung vor Pāṇini (etwa 600 v.Chr.). Diese altvedische Grammatik wurde durch Pāṇini überarbeitet und geordnet. In unserer Zeit existieren keine Schriften der Vyākaraṇa-Tradition mehr. Grammatik war bzw. ist den gläubigen Indern so wichtig, daß Patañjali dem Pāṇini folgende Worte in den Mund legte: „Derjenige, der meine Grammatik kennt, kennt Gott!“ Pāṇini erklärt in seinem Werk, daß, wenn es eine perfekte Sache in der Welt gibt, daß diese Sache dann das Sanskrit ist, denn das Sanskrit, die geordnete Sprache, ist die Mutter aller Sprachen.

IV.) Jyotiṣa beinhaltet die systematischen Lehren der Astronomie und Astrologie. Astrologie war und ist in der vedischen Zeit wichtig gewesen, weil man bestimmte Opfer und Rituale stets dann ausführte, wenn die Sterne günstig dafür standen. Deshalb war es wichtig zu wissen, wann bestimmte Sternkonstelationen auftreten, bzw. wieder auftreten werden. Neben der Astrologie entwickelte sich so im Laufe der Zeit auch die Astronomie. Ein sehr altes astronomisches Werk, des Brahmagupta, behandelt in einer Zeit, in der die Europäer, sofern sie sich überhaubt irgendwelche Gedanken gemacht haben, noch an eine scheibenförmige Erde geglaubt haben, folgende Themen:

Die heliozentrische Bewegung der planetaren Körper unseres Sonnensystems
Die Schräge der verschiedenen Umlaufbahnen der Planeten
Die Kugelform der Erde und aller anderen Himmelskörper
Eine Erklärung, warum der Mond leuchtet (weil er das Sonnenlicht reflektiert)
Die tägliche Eigendrehung der Erde
Das Vorhandensein von Fixsternen in unserem Sonnensystem
Das Gesetz der Gravitation, sowie andere wissenschaftliche Fakten, die im Westen erst seit Kopernikus oder Newton bekannt sind
Die Wichtigkeit von Jyotiṣa lag und liegt aber im astrologischen Gebrauch, um eben festzulegen, wann man welche Aktion (sei es ein Hausbau oder ein besonderes Ritual, die Zeugung eines Kindes oder die Krönung eines Königs usw.) ausführt. Wenn man eine Aktion zum richtigen Zeitpunkt ausführt, so wird diese Aktion erfolgreich sein. Es ist vielleicht etwas ironisch, daß die hohe Genauigkeit und das umfangreiche Wissen um wissenschaftliche Fakten, die oben genannt wurden, vor allem der Astrologie dienten und nicht so wie im Westen der Astronomie.
   

V.) Kalpa ist das Vedāṇga, welches sich mit der Rituallehre beschäftigt. Zu den Kalpa-Schriften zählen die Sūtra-Texte, welche sich an die vedischen Brāhmaṇas anschließen (s.o.). Diese Texte zerfallen (wie schon beschrieben) in vier Teile:

a) Śrauta-Sūtra,
b) Gṛhya-Sūtra,
c) Śulva-Sūtra
d) Dharma-Sūtra.

Diese vier Teile der Sūtra-Texte, welche die Essenz der Brāhmaṇas sind, wurden hier schon erwähnt, und deshalb wird hier nicht weiter auf sie eingegangen.


VI.) Nirukta
- die exegetischen/etymologische Traditionen:

Ein Teil der Vedāṇgas ist die etymologische Exegese (nirukta). Diese Tradition versuchte, den Veda in seiner Bedeutung zu erklären. Im Laufe der Zeit entstanden vier große exegetische Denktraditionen, die allerdings nicht alle in ihrer kompleten Form für uns heute zur Verfügung stehen. Diese Traditionen sind

I.) Die Tradition der yajñaikahas
II.) Die Tradition der atmāvaidahas
III.) Die Tradition der nairuktas
IV.) Die Tradition der aitihāsika

Die Tradition der yajñaikahas, also der ritualistischen Schule, erschließt die Bedeutung eines Veda-Textes hauptsächlich über das Ritual. Diese Interpretationsmethode opfert den Sinn eines Textes gerne der Methodik, alles in Verbindung mit dem Ritual zu sehen. Diese exegetische Schule steht in einer engen Verbindung mit dem Karma-Kanda des Vedas und mit dem sechsten der Vedāṇgas, mit der Wissenschaft der Rituallehre (Kalpa).
Die Tradition der atmāvaidahas steht in enger Verbindung mit dem Jñāna-Kanda des Vedas. Diese philosophisch-exegetische Schule sieht den Veda nicht vordergründig mit dem Opfer, dem Yajña, in Verbindung stehen, sondern sie interpretieren den Text der Saṃhitās als Beschreibungen innerer Vorgänge. Während die ritualistische Schule eine exoterische Exegese vornimmt, betreibt die philosophische Schule eine esoterische Exegese der Veda-Texte.
Die Tradition der nairuktas ist eine etymologische Schule von Exegeten. Der Sinn eines Textes, so die nairuktas, ergibt sich aus einer genauen Analyse der einzelnen Worte und/oder einer genauen Analyse der Grammatik. Beide Analysen werden unabhängig vom Kontext getätigt. Diese Exegetenschule hat ihren Namen mitunter auch davon, daß sie das Nirukta (eines der sechs Vedāṇgas) studieren. Die Idee dahinter ist die, daß man die Welt des Klanges auch als eine Manifestation der Höchsten Wirklichkeit sieht. Der eine Urklang der Silbe Om ergießt sich in die Lautvielfalt des Alphabetes, der Wörter, der Sätze und der verschiedenen Sprachen. Jeder Laut hat eine eigene Bedeutung, ist sozusagen die Höchste Wirklichkeit mit einer bestimmten Qualität. Somit werden die verschiedenen Worte des Veda zurückgeführt auf bestimmte Wortwurzeln, deren Bedeutung dann in den Wörterbüchern der Nairuktas nachgeschlagen werden kann.
Die letzte, nicht mehr existierende, Schule ist die historisch-mythologische Schule der aitihāsikas. Diese Schule wußte noch um die alten überlieferten Itihāsas und Purāṇas, die vielen Veda-Texten zugrunde lagen. Über diese Erzählungen werden schwere Stellen des Vedas interpretiert. Obwohl diese Schule nicht mehr existiert, sie ist schon vor der Zeitwende „ausgestorben”, hat sie dennoch einen wichtigen Einfluß auf die heutige indische Spiritualität. All die Purāṇas und Itihāsas, die es heute (noch) gibt, haben eine Traditionslinie, die auf die aitihāsikas bzw. auf die Itihāsas der Vedas (vor allem des Ṛg-Vedas) zurückgehen. Das bedeutet, daß über diese Traditionslinie Schriften wie etwa das Rāmāyana, das Mahābhārata und die Gītā, das Harivaṃṣa und alle Purāṇas eingebunden sind, in den Kanon der vedischen Schriften. Diese Schriften sind zwar alle smṛti, aber im Gegensatz zu den Saṃhitās oder zu den doch recht trockenen Sūtra-Texten sind diese Schriften in einer Sprache der Hingabe und der vollendeten Dichtung geschrieben.